ROXANE BORUJERDI | Ein Tiger in meinem Garten

Roxane Borujerdi | Ein Tiger in meinem Garten

« Ils n’ont pas de voix. Ils sont à peu de chose près paralytiques. Ils ne peuvent attirer l’attention que par leurs poses. Ils n’ont pas l’air de connaître les douleurs de la non-justification. Mais ils ne pourraient en aucune façon échapper par la fuite à cette hantise, ou croire y échapper, dans la griserie de vitesse. Il n’y a pas d’autre mouvement en eux que l’extension. Aucun geste, aucune pensée, peut-être aucun désir, aucune intention, qui n’aboutisse à un monstrueux accroissement de leur corps, à une irrémédiable excroissance… L’on ne peut sortir de l’arbre par des moyens d’arbre… »
Francis Ponge, « Faune et Flore », in Le Parti Pris des Choses.

Schon am Eingang wird die extensive Belagerung des Raumes sichtbar durch ihre Saturierung, Überlagerung, Aufsplitterung oder durch die Leere. Die spezifische Einschreibung des Werkes im umliegenden Raum durchzieht Roxane Borujerdis gesamte Arbeit.
An den Wänden sind in jeder Höhe überall Zeichnungen im Format A4 aufgehängt. Im Parterre expandiert ein Wald aus bunten Skulpturen, die Accessoires eines Film Sets ähneln, in sich wenig dicht, dafür aber sehr voluminös. Im Gegensatz dazu ist oben fast nichts, außer einer Videoprojektion in reduziertem Format und ein Paar gerahmte Zeichnungen. Zwischen den beiden Ebenen hängt ein riesiges Poster, das geometrische, schwarze Oberflächen reproduziert und vergrößert. Die Künstlerin hat zunächst die Zeichnung angefertigt, sie dann eingescannt, und in der Maschine auf eine der Formen eine Feder gelegt. Alles ist ein bisschen zu groß oder zu klein im Verhältnis zum vorgegebenen Raum. Es entsteht das Gefühl einer leichten Verschiebung im Verhältnis zur realen Anordnung. Eine Carroll´sche Vorstellungskraft scheint den Raum durch bewusst gesetzte Gegensatzpaare strukturiert zu haben: zwischen Vergrößerung und Verkleinerung, zwischen Abstraktion und Natur, zwischen Kontrolle und Zufall, zwischen Mathematik und Basteln. Gleichzeitig erinnert die Gesamtheit an eine Memphis-Szenerie mit Pop-up – Buch Akzenten.

Während ihrer letzten Residency in Brasilien verbrachte die Künstlerin absichtlich sehr viel Zeit mit der Beobachtung von Vögeln und ihren Farben, der Natur und ihren Formen. In der Ausstellung Ein Tiger in meinem Garten ist die üppig blühende Natur allerdings nur indirekt präsent. Die Silhouette der Baumkrone einer Palme, zwei eingebaute Monde, Büsche sind wahrnehmbar – aber sie werden eher erraten als wirklich erblickt. Eine luftige und freie Anordnung farbiger Fläche auf weißem Papier zeigt Sichel, die sich zu zweifarbigen Scheiben arrangieren und sich mit anderen Flächen zusammenstellen. Eine davon ist schwarz mit dreieckigen Konturen, die Umrisse der anderen erinnern an Blätter: Das Auge entdeckt Früchte, und vielleicht auch eine Eistüte? Auf schwarzem Papier durchzieht ein bewegtes Band aus bunten Teilstücken/Teilabschnitten den Raum des Blattes und entflieht diesen auf allen Seiten: hier könnte man die Halluzination einer Schlange projizieren. Drei Zeichnungen basieren auf diesem Prinzip und lösen trotzdem unterschiedliche Assoziationen aus, vom Organischen zum Abstrakten über die Technik.
Manchmal weisen die Abstraktionen und Hybridisierungen noch immer die Spur ihrer Inspirationen auf. Aber häufiger noch bewahren die ausgestellten Werke davon nur die Turgeszenz, die buschige oder spitze Eigenart: Sie werden durch eine Dynamik und eine vitale Kraft belebt. In ihren letzten Zeichnungen vibrieren die Formen, schillern in den Regenbogenfarben, vervielfältigen sich, deformieren oder blähen sich auf. So bringt eine fuchsienrote Linie farbige Farbschattierungen hervor, die wie in eine Muschel ausfließen. Oder handelt es sich dabei eher um eine farbige Variation, die sich von einer mathematischen Kurve ableitet? Eine andere Serie, auf feinen Holzscheiben, besteht aus Kompositionen aus dreieckig farbigen Feldern. Die Künstlerin hat die Acrylfarbe entweder direkt auf das Holz oder nach Hinzufügen von medizinischer Gaze aufgetragen. An bestimmten Stellen ist der Bildträger „nackt“ geblieben, sodass der ursprüngliche Grund zum Vorschein kommt. Die Rahmen mit tiefem Rand, das verlängerte Format und die Sichtbarkeit des Bildträgers versetzen diese Zeichnungen in den Gebieten des Flachreliefs oder des Objektes. Zuordnungen und Bezeichnungen schweben. Sogar in ihren minutiösen Kompositionen sind die Eigenschaften schnelllebig. Die Papiere wellen sich, das Holz arbeitet: Die autonome Evolution der Materialien gehört zum Spiel; sie ist ein Mittel, mit dem sich die Künstlerin von einer totalen Kontrolle über die Form distanziert. Roxane Borujerdi kultiviert eine kontrollierte Spontanität und eine erarbeitete Leichtigkeit.

Die stringente Ablehnung von Virtuosität verhindert jedoch nicht eine große Präzision und eine feine Intuition einzusetzen. Jede Skulptur der Serie Neumond hat ausgeprägte Akzente, je nachdem welche Formen – entweder geometrischer oder organischer Natur – vorherrschen. Mit Ölkreide, Tusche oder Acryl hat die Künstlerin präzise Bereiche hervorgehoben, manchmal unauffällig, den Bereichsrändern folgend oder auch nicht, durch monochromatische Felder oder konzentrische Mandalas. Bestimmte Stellen hat die Künstlerin mit einer Feder verziert. Der Bildträger, die MDF-Platte, ist ansonsten überall sichtbar. Die Oberfläche jeder Skulptur wurde nach einer spezifischen Logik behandelt. Alle Skulpturen resultieren jedoch aus einer Verschachtelung zweier oder mehrerer MDF-Platten durch einen Spalt. Die Kanten sind mit der Hand nach geometrischen Modellen gezeichnet und geschnitten worden. Roxane Borujerdis Kunst grenzt immer an die Bereiche des Bauens und des Bastelns. Sie wählt bescheidene Materialien aus und die Sparsamkeit der verwendeten Mittel ist generell bei ihren Arbeiten offensichtlich: Praktische Notwendigkeit und spielerische Logik liegen ihnen zugrunde. Die Künstlerin experimentiert freudvoll mit einfachen Techniken, die aber wenig verwendet werden, wie Brandmalerei oder Zeichnung mit der Rohrfeder. Manchmal lässt sie die Formen durch Entfernung von Farbe auftauchen, indem sie mit dem Pinsel auf die Farbblätter Chlorwasser aufträgt. Schließlich verweist die Art, wie sie ihre Elemente anordnet, nämlich durch Verschachteln oder Stapeln, oder wie sie ihre Filme komponiert oder montiert, nochmals auf das Basteln, die Claude-Lévi Strauss als ein Mittel definierte, Zeichen oder Ereignisse, die unmittelbar zugänglich sind, in neuen Strukturen zu organisieren, die nicht im Vorhinein definiert sind.

Das Formenrepertoire Roxane Borujerdis stammt aus der Natur, aus Bilderbüchern, Magazinen, Kinderspielen, Kulissen, gängigen Symbolen und einfachen geometrischen Figuren, d.h. aus dem, was wir gemeinhin als Alltagsleben bezeichnen. Es ist sofort zugänglich und verleiht den Arbeiten eine bekannte Erscheinung, gleichzeitig aber auch etwas Fremdes. Das Vokabular ist reduziert. Dreiecke, Kreise, Kurven, Linien, Rechtecke, Früchte, Vögel und Pflanzen bilden die Hauptelemente ihrer Arbeit. Ausgehend von einem grundlegenden Korpus aus Zeichen und Farben verteilt die Künstlerin die Formen auf unterschiedliche Medien und in unterschiedliche Zustände um, sie rekonfiguriert sie auf der Ebene des Raums und lässt sie zirkulieren. Die Mondsicheln kommen als Skulpturen vor, aber auch als Zeichnungen, genauso wie die Büsche.
Ihre Arbeit, die auf einer seriellen Praxis basiert, stellt eine Abfolge von Erfahrungen mit Kernmodulen dar. Für diese hat sie einfache Protokolle definiert, wie die Wiederholung, die Deklination, die Überlagerung, die Kombination, die Hybridisierung oder die Übertragung. Die Veränderung der Skala – real oder über den Produktionsmodus (Kamera oder Druck) – wie auch der Übergang von der Dreidimensionalität zur Zweidimensionalität und umgekehrt sind zwei Beispiele einer Übertragung. Die Künstlerin begrenzt häufig die Zahl der Farben, der Formen oder der Kompositionsprinzipien. Zudem entnehmen diese Prinzipien viele Varianten aus heteronomen Bilderwelten wie dem Herbarium, der Tapetenkunst oder dem Bilderbuch. Diese werden bis zu den räumlichen Grenzen des Werks oder der Serie ausgeschöpft, manchmal aber auch ganz aufgegeben oder zumindest verschoben.
Tatsächlich handelt es sich um ein Spiel, sowohl für Roxane Borujerdi, wenn sie beim Schaffen „übt“, als auch für die BesucherInnen, die in einen Raum geworfen werden, in dem es um spezifische Regeln geht, um ihr Erlernen und um ihre Anwendung, ja sogar um die Schaffung neuer Instruktionen. Themen wie Diskrepanz, détournement und Kontextverschiebung sind Begleiterscheinungen. Das Werk entsteht aus einer Anhäufung kleiner Dinge, kleiner, lächerlicher Herausforderungen, was das Ernsthafte einer abstrakten, formalistischen Genealogie entschärft, die in den Arbeiten ebenfalls zu spüren ist. So geht eine gewisse poetische Absurdität von ihren Werken aus, wenn zum Beispiel ausgewählte Objekte jeweils paarweise vor der Kamera in der Kulisse eines städtischen Schwimmbads gezeigt werden – was an das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch von Lautréamont erinnert (L’hippocampe, 2012, in Zusammenarbeit mit C. Dugit-Gros). In Cubi e libri spielen und tanzen die aufeinander gestapelten Kuben in Stop-Motion vor einem wechselnden Hintergrund aus offenen, bebilderten Büchern. Während die Comic-Seiten die kindliche Wirkung der Kuben verdoppeln, rekontextualisieren jene der Enzyklopädie oder der Malerei-Bücher sie auf fast absurde Weise in anderen Wissensuniversen. Es ist amüsant festzustellen, dass Roxane Borujerdi, die sich für Vögel interessiert, für deren Federn und Bewegungen, das Roussel‘sche literarische Verfahren nah der surrealistischen „Sprache der Vögel“ auf Bilder anwendet. Roussel konstruierte seine Texte auf der Basis akustischer Analogien, von Wortspielen und der (mystischen) Symbolik der Buchstaben selbst. So wird das Werk zu einer eigenen Welt, einer Natura naturans.

Die Künstlerin verweigert, vielleicht unbewusst, eine rationale Annäherung an die Kunst und zieht selbst eine eher unmittelbare, weniger wissenschaftliche Herangehensweise vor. Der gemeinsame Nenner der Arbeiten besteht darin, dass sie eine phänomenologische Erfahrung ausgehend von den Objekten vorschlagen, und den semiotischen Status des Bildes und der Form hinterfragen. Die Regeln, die der Konstituierung der Sicht und der Vorstellungskraft inhärent sind, aber auch der Anwendung von Sprache zur Bezeichnung der Realität, werden auf die Probe gestellt. Was sind die Folgen dieser Protokolle auf unsere Wahrnehmung des Objekts, des eigenen Körpers und des Raumes? Welche neuen Assoziationen, Analogien und Genealogien treten auf? Was sagen sie uns über unsere Vorstellungen, unser Wissen, unsere Interpretation?

Text: Anne Faucheret

Anne Faucheret ist Kuratorin und Kunstkritikerin. Sie arbeitet zurzeit an der Kunsthalle Wien.